Aikido und Mediation

Der wahre Sieg ist der Sieg über sich selbst

Die japanische Kampfkunst Aikido bietet eine interessante Perspektive auf Konflikte. Ihre grundlegenden Prinzipien werden durch körperliches Training erlernt und erfahrbar. Dabei sind die körperliche und die geistige Entwicklung eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Durch die Beschäftigung mit Aikido lassen sich viele wertvolle Erkenntnisse über den Umgang mit Konflikten gewinnen, und zwar sowohl für körperlich als auch für verbal ausgetragene Konflikte.

Im Aikido wird nicht nur viel Wert auf effektive Verteidigungstechniken gelegt, sondern auch auf die geistige und moralische Entwicklung der Schüler:innen hin zu ausgeglichenen, integren Persönlichkeiten, die im Einklang mit sich selbst und in Harmonie mit ihrer sozialen und natürlichen Umgebung leben. Moralische und ethische Prinzipien sind eine feste Grundlage.

Im Aikido steht nicht der Sieg über den Gegner im Vordergrund, sondern der Sieg über sich selbst. Durch stetiges Üben werden eigene Schwächen überwunden und Körper und Geist in Einklang gebracht. Das ermöglicht es, auch nach außen friedlich aufzutreten und Konflikten selbstbewusst und respektvoll zu begegnen. Gewalt sollte niemals mit Gewalt vergolten werden. Wahre Kampfkunst ist der Weg des Friedens und der Harmonie.

Ki und Atmung

Das zentrale Element aller Aikido-Techniken ist Ki, ein in Asien weit verbreitetes Konzept, dass sich nur schwer übersetzen lässt. Ki beschreibt die jedem Wesen innewohnende Lebenskraft und ist eng verbunden mit dem Atem. Das Wort Aikido kann als die Kunst oder der Weg (Do), Lebensenergie (Ki) anzupassen oder zu harmonisieren (Ai), übersetzt werden. Dabei geht es immer auch um die Überwindung von Gegensätzen: Feuer und Wasser, Yin und Yang, Himmel und Erde, das Männliche und das Weibliche, Einatmung und Ausatmung, das Selbst und das Andere werden auf kreative Weise miteinander in Einklang gebracht. Störungen der sensiblen Balance führen zu Chaos, Leid und Zerstörung.

Auch in der Mediation geht es darum, tatsächliche oder vermeintliche Gegensätze zu überwinden, indem alle Aspekte betrachtet und auf kreative Weise miteinander in Einklang gebracht werden.

Ki wird im Aikido durch körperliche Übungen erfahrbar. Durch unermüdliches Training entwickeln die Schüler:innen ein intuitives Gespür für die unsichtbare Kraft. Zunehmend spüren sie, was in ihren Gegnern vorgeht, und können ihr eigenes Verhalten, ihr eigenes Ki darauf anpassen. Aikidotechniken funktionieren dann am besten, wenn der Krafteinsatz und die eigene Intention nicht gegen die Kraft und den Willen der Angreifer:innen gerichtet sind, sondern in dieselbe Richtung fließen. Schläge ins Gesicht werden nicht abgeblockt, sondern durch geschicktes Ausweichen weiter in dieselbe Richtung gelenkt, wodurch die Angreifer:innen aus dem Gleichgewicht geraten und die Aggression ins Leere fließt.

Diese philosophischen Grundlagen des Aikido lassen sich vom körperlichen Zweikampf auf verbale Konflikte übertragen. Ein verbaler Angriff kann kraftvoll abgeblockt und mit einem brutalen „Gegenschlag“ gekontert werden. Alternativ kann ich dem Angriff sanft ausweichen, verstehen, was dahintersteckt, und dann Argumente suchen, die der Intention des „Angreifers“ nicht entgegenstehen, sondern ihn sogar unterstützen. Wenn ich Antworten auf die Ursachen der Aggression finde und damit Lösungen anbiete, die meinem Gegenüber ebenso gerecht werden wie meinen eigenen Bedürfnissen und Interessen, wenn in anderen Worten unser Ki harmoniert, kann der Konflikt elegant aufgelöst werden.

Zentrum und Zentrierung

Das komplexe und abstrakte Konzept des Zentrums ist in allen japanischen Kampfkünsten von großer Bedeutung. Es verbindet kosmische, universelle Elemente mit individuellen, menschlichen Aspekten, und berücksichtigt physische, mentale, spirituelle und moralische Faktoren. Die menschliche Realität ist oft von Verwirrung und Leid geprägt, deren Ursachen in menschlicher Ignoranz liegen. Das führt dazu, dass sich Menschen auf destruktive Weise gegen sich selbst und gegen andere Menschen richten. Einen Ausweg bietet die Suche nach dem Zentrum der Existenz. Durch den Prozess der Zentrierung sollen die Widersprüche in Einklang und das Chaos in Ordnung gebracht werden. Dieses metaphysische Zentrum kann in jedem und allen gefunden werden, im Kosmos, in der Natur und auch von jedem Menschen in sich selbst. Um das eigene Zentrum zu finden, um sich also zu zentrieren, muss ein Mensch die verschiedenen Aspekte seiner Existenz, innere und äußere, in Einklang bringen. Die einseitige Berücksichtigung bestimmter Aspekte verstärken hingegen das Ungleichgewicht und Chaos.

Das Wechselspiel zwischen innerer Ausgeglichenheit und harmonischen Beziehungen, oder eben innerer Unruhe und sozialen Konflikten, ist für den Umgang mit Konflikten besonders relevant, denn es veranschaulicht, dass eine zwischenmenschliche Beziehung nur dann friedlich und erfolgreich sein kann, wenn die Beteiligten mit sich selbst im Reinen sind. Gegeneinander formulierte Vorwürfe haben oft ihren Ursprung in inneren Zweifeln und Ängsten. Im Aikido sind diese grundsätzlichen Zusammenhänge körperlich erfahrbar: Wenn zum Beispiel ein Angreifer das Handgelenk seines Gegners greift, kann sich dieser nur schwer aus dem Griff lösen, wenn er sich verkrampft und unkontrolliert zieht oder drückt. Gelingt es ihm hingegen, sich zu entspannen und eine Schwachstelle in dem Griff zu erspüren, dann kann er seine Hand beinahe mühelos befreien.

Diese Dynamik lässt sich auch bei verbalen Konflikten nachvollziehen. Wer zum Beispiel auf einen aggressiven Vorwurf mit ängstlichem Zurückweichen oder wütenden Gegenvorwürfen kontert, wird das Gespräch nur schwer in gute Bahnen lenken. Wer aber zunächst aufmerksam zuhört und versteht, was hinter dem Vorwurf steckt, kann wohlüberlegt und angemessen reagieren. In den japanischen Kampfkünsten wird davon ausgegangen, dass sich das metaphysische Zentrum in der Körpermitte, also im Bauch spiegelt. Und aus diesem Zentrum heraus entspringt auch das Ki. Der Bauch, auf Japanisch Hara genannt, ist somit nicht nur die Körpermitte, sondern darüber hinaus das Zentrum der gesamten menschlichen Existenz. Deshalb findet der Bauch bei allen Atemübungen und körperlichen Techniken eine so große Beachtung. Unablässiges körperliches Training, Atemübungen und Meditationen sind Methoden, um Körper und Geist zu zentrieren und miteinander in Einklang zu bringen, wodurch ein harmonischer Kontakt und ein friedliches Miteinander mit anderen Menschen möglich wird.

Zanshin

Zanshin ist ein japanischer Begriff, der sich nur unzureichend als „verweilender Geist“ übersetzen lässt. Das erste Schriftzeichen „Zan“ bedeutet verweilen oder bleiben und das zweite Zeichen „Shin“ bedeutet Herz oder auch Seele. Zanshin ist ein physischer und geistiger Zustand fokussierter Aufmerksamkeit im Anschluss an eine Technik oder Handlung. Es bedeutet, mit seinem Gegenüber verbunden zu bleiben und auf Überraschungen gefasst zu sein. Dafür müssen die eigenen Gefühle unter Kontrolle gehalten und Rücksicht auf den Gegner genommen werden. Zanshin erfordert, einen besiegten Gegner nicht zu demütigen und eine eigene Niederlage klaglos zu akzeptieren. Zanshin fördert Anteilnahme und lässt keinen Platz für Schadenfreude.

Hier können aufschlussreiche Parallelen zum aktiven oder empathischen Zuhören in der Mediation gezogen werden, wo die Aufmerksamkeit auf den Medianden fokussiert wird, um das Gesagte zu verstehen und einzuordnen. Ebenso wichtig ist es, die Medianden nicht zu beurteilen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Empfinden ehrlich auszudrücken. Nur so kann ein sicherer Raum geschaffen werden, in dem die Suche nach einvernehmlichen Lösungen gelingt.

Körperhaltung und Positionierung

Im Kampf kommt es auf die eigene Körperhaltung und die Positionierung zum Gegner an. Nur wer stabil steht, kann effektiv handeln, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Abstand zwischen den Kontrahenten. In japanischen Kampfkünsten gibt es dafür den Begriff „Ma-ai“, der den richtigen Abstand bezeichnet: weit genug entfernt, um auf jede Aggression rechtzeitig reagieren zu können, doch nahe genug, um in Kontakt zum Gegner zu bleiben und eigene Techniken effektiv einsetzen zu können. Das Erspüren der gegnerischen Intention und die angemessene Reaktion darauf sind ausschlaggebend: Wenn sich mein Gegner entfernt, folge ich ihm. Wenn er sich nähert, gehe ich auf Abstand. Wenn er sich um mich herumbewegt, wende ich mich ihm zu. Somit folge ich der Intention des Gegners, doch nicht, um mich geschlagen zu geben, sondern um meine eigene Position zu behaupten und handlungsfähig zu bleiben. Die Ausrichtung am und auf den Gegner ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ganz im Gegenteil eine Grundvoraussetzung dafür, sich selbst zu schützen.

Das Erspüren von Intentionen und die entsprechenden Reaktionen darauf gehören auch zum Repertoire eines Mediators oder einer Mediatorin. Auch in einer Mediation können Körperhaltung und Positionierung entscheidend sein. Es ist sinnvoll, eine aufrechte Körperhaltung zu bewahren und stabil zu stehen oder zu sitzen, weil es das Atmen erleichtert, den Kreislauf fördert und einen besseren Überblick über das Geschehen ermöglicht. Der bewusste Körpereinsatz von Mediator:innen, indem sie sich zum Beispiel deutlich den einzelnen Gesprächspartnern zuwenden und je nach Situation den Abstand variieren, kann die Wirkung von Kommunikationstechniken unterstützen. Ebenso wichtig ist es, im übertragenen Sinn einerseits vertrauensvollen Kontakt aufzubauen und andererseits eine professionelle Distanz zu wahren.

Flexibilität

Auch wenn körperliche Kraft und Fitness nicht unwichtig sind, kommt es in japanischen Kampfkünsten eher auf Flexibilität an. Wer auf Kraft setzt, wird früher oder später immer an jemanden geraten, der stärker ist, spätestens bei fortschreitendem Alter. Flexibilität jedoch lässt sich ein Leben lang verbessern, denn damit ist nicht nur die Biegsamkeit des Körpers gemeint, sondern vor allem die Fähigkeit, sein Verhalten flexibel an die jeweilige Situation anzupassen. Bei dem Einsatz von Kraft gegen Kraft kommt es unweigerlich zu Blessuren und Verletzungen, meist auf beiden Seiten. Wer einer aggressiven Kraft flexibel ausweicht, schützt gleichzeitig sich selbst und den Angreifer, und kann dann aus einer neuen, für den Angreifer unerwarteten Position heraus agieren. Damit wird die destruktive, gegeneinander gerichtete Energie umgeleitet und kann auf sanfte Weise aufgelöst werden.

Körperliche Flexibilität erfordert geistige Flexibilität. Nur wer ohne starre Vorstellungen über die nächsten Schritte in eine Auseinandersetzung geht, kann spontan auf den Kontrahenten reagieren. Je besser die Konzentration auf das Hier und Jetzt gelingt, desto schneller erfolgt ein Verständnis für die aktuelle Kampfsituation und die Intention des Gegners, was wiederum schnelle und flexible Reaktionen ermöglicht. Auf ähnliche Weise fordern wir in der Mediation Ergebnisoffenheit und die Bereitschaft, sich auf neue Ideen einzulassen. Wir unterstützen Medianden dabei, flexible Lösungen zu entwickeln.

Kampfkunst in verbalen Konflikten und in der Mediation

Das Aikidotraining vermittelt ein Gespür für die Dynamik und grundlegende Zusammenhänge von Konflikten. Es zeigt, wie wichtig innere Ruhe, eine tiefe Atmung und eine aufrechte Körperhaltung sind, ebenso wie die Konzentration und geistige wie körperliche Flexibilität. Übende wissen, wie schmerzhaft es ist, starr und mit Kraft auf einen Angriff zu reagieren, und wie effektiv es sein kann, zunächst auszuweichen, um dann aus einem anderen Winkel auf den Angriff zu reagieren. Ganz ähnlich verhält es sich in einem verbalen Konflikt. Ein kraftvolles, aggressives Gegenargument kann die Gefühle des „Gegners“ verletzen, ihn in die Ecke drängen und so zu einer weiteren Eskalation führen. Da ist es oft besser, erst einmal nachzugeben oder auszuweichen. Das lockert die Spannung und ermöglicht, die vermeintlichen Gegensätze konstruktiv aufzulösen.

Literatur

  • Auer-Frege, I. (2010): Aikido als Einstieg zu einer Kultur der Gewaltfreiheit auf den Philippinen. In Auer-Frege (Hrsg.), Wege zur Gewaltfreiheit – Methoden der internationalen zivilen Konfliktbearbeitung. Berlin: Büttner Verlag, S. 147-154
  • Benett, A. (2017): Bushido and the Art of Living – An Inquiry into Samurai Values. Tokyo: Japan Publishing Industry Foundation for Culture (JPIC)
  • Ratti, O., Westbrook, A. (1993): Secrets of the Samurai – A Survey of the Martial Arts of Feudal Japan. Rutland/Tokyo: Charles E. Tuttle Company, Fifth printing (First edition 1973)
  • Stevens, J. (1987). Abundant Peace – The Biography of Morihei Ueshiba, founder of Aikido. Boston/London: Shambhala
  • Ueshiba, M. (1997). Budo – Das Lehrbuch des Gründers des Aikido. Heidelberg: Kristkeitz Verlag
  • Ueshiba, M. (2007). The secret teachings of Aikido. Tokyo: Kodansha International