von Susan Tay & Christian von Baumbach
Dieser Artikel wird mit der Genehmigung des Singapore International Mediation Institute (SIMI) wiedergegeben. Er wurde erstmals auf Englisch in SIMIs E-Newsletter SIMI News Issue #6 im Dezember 2024 veröffentlicht.
Im Rahmen einer Serie von Vordenker-Artikeln, die das SIMI anlässlich seines 10-jährigen Jubiläums veröffentlicht, teilen Susan Tay und Christian von Baumbach, beide SIMI-zertifizierte Mediatoren, ihre Gedanken zu einem wichtigen Thema: ethische Überlegungen bei der Mediation von Konflikten.
Eine Unterhaltung
„Manchmal stoßen wir auf Fälle, die mich wirklich nachdenklich machen“, erzählte eine Mediatorin beiläufig bei einem Treffen. Diese Mediatorin ist seit über 20 Jahren in der Mediation tätig und engagiert sich zudem ehrenamtlich in einem Gemeinschaftsmediationsprogramm.
„Es gibt ein Unternehmen, das seine verschiedenen Mieter regelmäßig aus äußerst fragwürdigen Gründen verklagt. Manchmal ist es so absurd, dass selbst ich – obwohl ich keine Juristin bin – merke, dass hier etwas nicht stimmt. Anschließend nehmen sie am Mediationsprozess teil. Fast alle Mieter lassen sich auf eine Einigung ein. Warum sollten sie sich auch auf einen Rechtsstreit über ein paar Hundert oder sogar ein paar Tausend Dollar einlassen? Das Unternehmen erzielt durch die Mediation fast immer Ergebnisse, die es vor Gericht womöglich nicht hätte erreichen können.
Dieses Unternehmen ist mittlerweile so regelmäßig in unseren Mediationen vertreten, dass alle ehrenamtlichen Mediatoren bereits Erfahrung mit ihren Fällen gesammelt haben.“
„Wurde das Unternehmen denn nie zur Rede gestellt?“, fragte ich.
„Das fällt doch nicht in den Zuständigkeitsbereich eines Mediators, oder?“, sagte die Mediatorin frustriert. „Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob wir das in diesen Umständen tun sollten. Ich habe das Gefühl, dass das Unternehmen in seinem Umgang mit den Mietern unethisch handelt, indem es sie verklagt und dann darauf hofft, dass sie sich auf eine Einigung einlassen.“
Was können wir tun?
„Man könnte meinen, dass ein Berufsfeld, das sich selbst bewusst als ‚Gutes Tun‘ betrachtet, eine gut entwickelte Literatur über Ethik hätte – doch das ist nicht der Fall. Es gibt unzählige Texte darüber, wie man effektiv, gewinnbringend, spirituell, sensibel und interkulturell mediiert. Doch Leitlinien für eine ethische Mediation sind Mangelware.“
— Ellen Waldman, Mediation Ethics
Keiner von uns begann seine berufliche Laufbahn als Mediator.
„Ich war eine Prozessanwältin, habe Probleme für meine Mandanten gelöst und Fälle gewonnen. In diesem Umfeld war es leicht, den Blick für eine wirklich effektive und nachhaltige Lösung zu verlieren, wenn man gezwungen war, eine aggressive Haltung um jeden Preis einzunehmen“, sagte Susan.
„Ich habe Japanologie studiert, über sechs Jahre in Japan gelebt und als Übersetzer gearbeitet. Trotz meines hohen interkulturellen Verständnisses fehlten mir einige Fähigkeiten, um interkulturelle Konflikte wirklich effektiv zu bewältigen“, sagte Christian.
Mediation war daher eine willkommene Erfrischung. Kollaborative und kreative Lösungsansätze, die zuvor undenkbar schienen, standen plötzlich im Vordergrund. Es war spannend. Doch mit wachsender Erfahrung erkannten wir, dass das Feld der Mediation Gefahr lief, von ethischen Prinzipien entkoppelt zu werden. Unsere Praktiken wurden zur Routine, ein reines „Musterfolgen“, ohne darüber nachzudenken, ob bestimmte Handlungen fair, gerecht oder prinzipientreu waren.
„So wurde es schon immer gemacht – was könnten wir dagegen tun?“
Sollte Ethik eine Rolle spielen?
Sollten wir Ethik überhaupt als Hindernis für eine Einigung zwischen Parteien betrachten, die seit Jahren im Streit liegen?
Auf den ersten Blick scheint die Antwort offensichtlich: Natürlich muss Ethik eine Rolle spielen, denn Mediation ist Teil eines gerechten Systems. Berufsethische Standards sollten nicht nur für Richter und Anwälte gelten, sondern ebenso für Mediator:innen. Jedes verantwortungsbewusste Verfahren zur Streitbeilegung muss als gerechte Plattform mit Verfahrensfairness wahrgenommen werden, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen. Ethik bildet das zentrale Fundament für grundlegende Werte wie Unparteilichkeit und Selbstbestimmung, die für eine nachhaltige Einigung essenziell sind.
In der Praxis ist die Grenze oft viel verschwommener. Häufig geraten wir in den Sog einer bevorstehenden Einigung und rücken ethische Überlegungen in den Hintergrund.
Zum Beispiel sagen wir uns, dass es möglicherweise eine leichte Machtdiskrepanz gibt, aber wir betrachten das große Ganze – hier sind Parteien, die verzweifelt nach einer Einigung suchen, um diesen Albtraum endlich hinter sich zu lassen. Spielt es wirklich eine Rolle, dass sie möglicherweise unter Druck eine Einigung erzielen oder dass die andere Partei eindeutig mehr Ressourcen und Macht zur Verfügung hat? Wer sind wir, dass wir ihnen diese Chance auf Frieden nehmen?
Andererseits stellen wir uns das wahrscheinlichere Szenario vor: Die Parteien wachen am nächsten Morgen auf und erinnern sich nur an den Druck und das ungünstige Ergebnis. Tage oder Wochen später denken sie darüber nach, wie unfair der Prozess war und wie „unbefriedigend“ das Endergebnis. Bedauern und Reue setzen ein, was schließlich zu einer Eskalation des Konflikts führt – schlimmer noch, das Vertrauen in den Mediationsprozess könnte erheblich beschädigt werden.
Dieser Artikel mag keine endgültige Antwort auf diese Frage geben, aber wir hoffen, dass er verdeutlicht, warum Ethik unbedingt eine Rolle spielen muss. So wie im Gerichtswesen, in der Unternehmensführung und im täglichen Leben argumentieren wir, dass keine Einigung von Dauer sein kann, wenn sie nicht auf ethischen Prinzipien basiert.
Welche ethischen Standards gibt es?
Omer Shapira erläutert in Mediation Ethics: A Practitioner’s Guide, dass die Ethik von Mediatoren und die ethische Praxis der Mediation aus der Verbindung zweier Konzepte entstehen: dem Konzept der Rolle (das Handeln als Mediator) und dem Konzept der Ethik (das Richtige tun). Die Ethik eines Mediators umfasst die moralischen Verpflichtungen und Ideale all jener, die Mediation durchführen.
Die Grundlagen dieser Ethik können aus verschiedenen Quellen stammen:
- Gesetzgebung – Ein Beispiel ist Artikel 5 des Singapore Convention on Mediation. Diese Bestimmung legt die Gründe für die Verweigerung einer Durchsetzung eines International Mediated Settlement Agreement (IMSA) fest. Dazu gehören:
- Ein schwerwiegender Verstoß gegen die für den Mediator oder die Mediation geltenden Standards, ohne den die betroffene Partei das IMSA nicht abgeschlossen hätte.
- Ein Versäumnis des Mediators, den Parteien Umstände offenzulegen, die berechtigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit und Unabhängigkeit hervorrufen könnten. Falls diese Unterlassung einen wesentlichen Einfluss auf eine Partei hatte, ohne die sie dem IMSA nicht zugestimmt hätte, kann dies als Grund zur Anfechtung dienen.
- Rechtsprechung – Präzedenzfälle aus der gerichtlichen Praxis können ethische Standards für Mediatoren definieren und weiterentwickeln.
- Verhaltenskodizes – Mediatoren verpflichten sich oft freiwillig oder sind durch den Beitritt zu einer professionellen Organisation an einen bestimmten Kodex gebunden. Ein Beispiel ist das Singapore International Mediation Institute (SIMI), das den SIMI Code of Professional Conduct anbietet.
Das SIMI Code of Professional Conduct bietet Orientierungshilfen und Standards für SIMI-akkreditierte Mediatoren und legt fest, welches professionelle Verhalten von ihnen erwartet wird. Darüber hinaus informiert der Kodex Nutzer von Mediationsdiensten darüber, was sie von einem SIMI-Mediator hinsichtlich professionellen Verhaltens erwarten können. Vorbehaltlich der Mediationsvereinbarung zwischen dem SIMI-Mediator und den streitenden Parteien dient der Kodex als Standardregelwerk für den betreffenden Mediator. SIMI strebt danach, diesen Kodex als Grundstein für professionelles Verhalten zu etablieren und so das Vertrauen der Nutzer in Mediatoren und Mediationsdienste zu stärken.
Der Unterschied zwischen ethischen Fragen und ethischen Dilemmata
Ein ethisches Problem beinhaltet eine klare ethische Verpflichtung, wie gehandelt werden muss. Es ist ein eindeutiges Gebot. Ein ethisches Dilemma hingegen erfordert eine Entscheidung zwischen mindestens zwei Handlungsoptionen, bei denen eine ethische Verantwortung mit einer anderen kollidiert.
Ethische Dilemmata treten häufig zwischen Parteien mit unterschiedlichem Hintergrund auf. Das liegt daran, dass Ethik stark von unserer eigenen Kultur, unseren Werten und sogar unseren Lebensentscheidungen geprägt ist. Unser Hintergrund beeinflusst und formt unsere ethischen Standards.
Als zwei Mediatoren mit unterschiedlicher Erziehung und kulturellem Hintergrund, die auf zwei verschiedenen Kontinenten – Asien und Europa – leben, haben wir unterschiedliche Ansichten darüber, was ethische Standards in bestimmten Aspekten des Mediationsprozesses ausmacht. Ein Beispiel dafür sind Einzelgespräche (caucus sessions), die in Singapur und wahrscheinlich in vielen asiatischen Ländern üblich, nützlich und manchmal sogar notwendig sind. In Deutschland hingegen neigen Mediatoren dazu, Einzelgespräche zu vermeiden, um Transparenz und Selbstverantwortung zu betonen.
Aspekte ethischer Dilemmata
1. Voreingenommenheit des Mediators
Mediatoren können von bewussten oder unbewussten Vorurteilen beeinflusst werden. Voreingenommenheit ist ein natürlicher und bis zu einem gewissen Grad unvermeidbarer Bestandteil des menschlichen Denkens. Sie hilft uns, den Alltag zu bewältigen, ohne jede Handlung oder Begegnung übermäßig zu analysieren. Aus ethischer Sicht kann sie jedoch problematisch werden, wenn sie die Unparteilichkeit des Mediators beeinträchtigt. Wenn wir uns unserer Vorurteile nicht bewusst sind oder sie bewusst ignorieren, verzerren sie unsere Wahrnehmung und beeinflussen unsere Entscheidungen.
Empfehlung: Mediatoren sollten sich regelmäßig mit ihren eigenen Vorurteilen auseinandersetzen und sicherstellen, dass diese ihre Unparteilichkeit nicht beeinflussen. Regelmäßige Supervision durch erfahrene Mediatoren und der Austausch mit Kollegen können diesen Selbstreflexionsprozess unterstützen.
2. Doppelte Mandate und verborgene Agenda
In Mediationsprozessen innerhalb von Organisationen werden Mediatoren oft von Personalabteilungen, Teamleiter:innenn oder Geschäftsführer:innenn beauftragt. Die beteiligten Parteien oder Streitparteien sind hingegen meist Angestellte des Unternehmens. Dies kann zu einem doppelten (und oft widersprüchlichen) Mandat führen: Einerseits soll der Mediator den Konfliktparteien helfen, ihre Auseinandersetzung eigenständig und auf freiwilliger Basis zu lösen. Andererseits wird vielleicht erwartet, manchmal unausgesprochen, dass der Konflikt auf eine bestimmte Weise gelöst wird – unabhängig davon, ob diese Lösung den Wünschen der einzelnen Parteien entspricht.
Mitunter verschleiern Klienten ihre eigentlichen Absichten absichtlich, um Zeit zu gewinnen oder Verantwortung für bestimmte Entscheidungen oder Lösungen zu vermeiden. Mediatoren stehen dann vor dem Dilemma, ob sie diese verborgene Agenda unterstützen sollen, auch wenn sie möglicherweise nicht dem Wohlergehen der beteiligten Parteien dient.
Empfehlung:
Es ist wichtig, das Ziel der Mediation sowie die Erwartungen und Ziele der Klienten von Anfang an klar zu definieren. Dabei sollte zwischen den Interessen der Organisation und den individuellen Zielen der beteiligten Personen unterschieden werden. Frühzeitig sollte entschieden werden, welche Prinzipien Vorrang haben. Werte wie Freiwilligkeit, informierte Selbstbestimmung und Vertraulichkeit spielen in irgendeiner Form immer eine zentrale Rolle.
Fallstudie 1
Eine NGO beauftragte uns mit der Mediation eines Konflikts innerhalb eines lokalen Teams. Wir begannen mit separaten Sitzungen, zunächst mit allen Teammitgliedern und dann mit der Teamleitung.
Schon bald stellten wir fest, dass der Teamleiter einem bestimmten Mitarbeiter im Team nicht vertraute und ihn für den Konflikt verantwortlich machte. Das offizielle Ziel unseres Einsatzes war es, eine offene Diskussion zwischen allen Teammitgliedern zu ermöglichen, um Differenzen zu klären und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit wiederherzustellen. Allerdings entdeckten wir, dass die Teamleitung bereits entschieden hatte, diesen Mitarbeiter über kurz oder lang loszuwerden, da sie nicht glaubten, dass er sich verändern könne.
Das Problem war jedoch, dass der Mitarbeiter aufgrund der geringen Teamgröße und strenger arbeitsrechtlicher Vorschriften in Deutschland nicht einfach entlassen werden konnte. Uns wurde schnell klar, dass es nicht nur einen Konflikt zwischen den Teammitgliedern gab, sondern auch zwischen diesem einen Mitarbeiter und dem Teamleiter.
Dies war ein klassisches Beispiel für ein doppeltes Mandat und eine verborgene Agenda. Unser Ansatz war, mit dem Teamleiter über seine Ziele zu sprechen und ihm eine Wahl zu lassen: Er konnte entweder offen mit dem Mitarbeiter sprechen und aktiv zur Mediation beitragen, um den Konflikt zu lösen, oder wir konnten die Mediation nicht weiterführen, und er müsste eine andere Vorgehensweise finden.
Es war für uns offensichtlich, dass die Mediation ohne Transparenz und ohne die Übernahme von Verantwortung durch die Teamleitung für ihren eigenen Anteil am Konflikt nicht erfolgreich sein konnte.
3. Geheimhaltung und Intransparenz in Einzelgesprächen (Caucuses)
Transparenz und Vertraulichkeit sind zentrale Prinzipien der Mediation. In der Praxis stehen sie jedoch oft im Widerspruch zueinander. Für eine erfolgreiche Mediation kann es am besten sein, alle relevanten Informationen mit der anderen Partei zu teilen, um Vertrauen aufzubauen und Lösungen auf Basis vollständiger Offenlegung zu finden. Allerdings können bestimmte Informationen eine Schwäche offenbaren oder die Verhandlungsposition einer Partei schwächen und werden daher bewusst zurückgehalten. Dies ist einer der Hauptgründe für Einzelgespräche (caucus sessions), in denen Parteien offener mit dem Mediator sprechen können.
Ethische Probleme können entstehen, wenn Informationen preisgegeben werden, die gegen das Gesetz verstoßen oder den Mediator in eine Verpflichtung zur Meldung bringen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist eine Situation, in der das Wohl von Kindern gefährdet ist. In einigen weniger eindeutigen Fällen kann es dennoch problematisch sein, Informationen geheim zu halten, da eine Vereinbarung möglicherweise nicht tragfähig wäre. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn eine Partei im Einzelgespräch einen Betrug zugibt, den Mediator aber bittet, diese Information vertraulich zu behandeln.
Empfehlung:
Es sollte sorgfältig geprüft werden, ob eine Vereinbarung aufgrund fehlender Offenlegung möglicherweise ungültig oder nicht durchsetzbar ist. In einigen Fällen könnte es sogar erforderlich sein, sich als Mediator zurückzuziehen, da das ethische Dilemma darin besteht, dass man eine potenzielle Straftat nicht offenlegen kann.
4. Wirtschaftliche Interessen des Mediators
In Fällen, in denen der Auftraggeber und die Streitparteien nicht identisch sind, besteht häufig ein Druck auf Mediatoren, die Parteien zu einer Einigung zu bewegen. Arbeitsplatzmediationen sind ein gutes Beispiel dafür.
Das Unternehmen, das die Mediation bezahlt, erwartet Ergebnisse. Es möchte, dass Konflikte beendet werden, die Mitarbeiter zur Arbeit zurückkehren und die Produktivität entweder gesteigert oder zumindest nicht beeinträchtigt wird. Die Wirksamkeit eines Mediators wird oft an solchen Ergebnissen gemessen. Ein Mediator, dem es nicht gelingt, eine Einigung herbeizuführen, wird möglicherweise nicht erneut beauftragt.
Zudem gibt es die weit verbreitete Wahrnehmung, dass eine Mediation ohne Einigung als Misserfolg gewertet wird, was dem Ruf des Mediators schaden könnte.
Empfehlung:
Häufig wird der Erfolg einer Mediation mit der Einigungsquote gleichgesetzt. Wir sollten jedoch erkennen, dass ein gutes Ergebnis nicht zwingend eine Einigung sein muss. Vielmehr kann eine erfolgreiche Mediation bereits darin bestehen, die Grundlage für eine effektive Streitbeilegung zu schaffen, die Kommunikation zu verbessern oder ein klareres gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen.
Ein guter Prozess ist wertvoller als eine schlechte Einigung. Aus diesem Grund appellieren wir an die Mediationsbranche, jegliche Praxis zu vermeiden, bei der Mediatoren erfolgsabhängig oder auf Basis einer Provisionsvergütung entlohnt werden.
5. Autonomie der Parteien vs. materielle Fairness
Dass die Autonomie der Parteien unterstützt werden sollte, ist unbestritten. Sie ist schließlich ein grundlegendes Prinzip der Mediation. Doch was, wenn ein Mediator das Gefühl hat, dass eine Partei einer Vereinbarung zugestimmt hat, die ihren langfristigen Interessen nicht dient – oder schlimmer noch, wenn diese Einigung auf Fehlinformationen oder falschen Ratschlägen basiert?
Dieses Dilemma tritt immer wieder auf, und Mediatoren stehen häufig vor der Herausforderung, zwischen der Achtung der Autonomie der Parteien und der Sicherstellung einer materiell fairen Lösung abzuwägen.
Ein Mediator, der die Autonomie der Parteien über alles stellt, wird sich davor scheuen, eigene Maßstäbe für Fairness oder Gerechtigkeit aufzuzwingen – was als eine Form von Voreingenommenheit des Mediators angesehen werden könnte. Ein Mediator hingegen, der sich dem Prinzip verpflichtet fühlt, Entscheidungen zu unterstützen, die sowohl auf Autonomie als auch auf materieller Fairness beruhen, wird eher bereit sein, kritisch zu hinterfragen, ob eine Vereinbarung tatsächlich fair und gerecht ist.
Empfehlung:
Es wird immer unterschiedliche Ansichten darüber geben, wie mit diesem Dilemma umzugehen ist, und keine kann zweifelsfrei als unethisch bezeichnet werden. Dennoch sollten Mediatoren sich darüber im Klaren sein, wo sie in dieser Frage stehen, und ihre Haltung gegenüber den Parteien transparent machen.
Mediatoren können den Parteien gezielt Fragen stellen, um sie zur Reflexion anzuregen, z. B.:
- „Haben Sie sich hierzu rechtlich beraten lassen?“
- „Haben Sie diese Entscheidung gründlich durchdacht?“
- „Ist diese Lösung auch langfristig tragfähig?“
Diese Art von Fragen kann helfen sicherzustellen, dass die Parteien eine informierte und nachhaltige Entscheidung treffen.
Fallstudie 2
Diese Mediation betraf ein Ehepaar während ihres Scheidungsverfahrens. Der Zusammenbruch ihrer Ehe erfolgte, nachdem der Ehemann herausfand, dass die Ehefrau eine Affäre mit ihrem Vorgesetzten am Arbeitsplatz hatte. Er war wütend und verhielt sich seitdem besonders aggressiv gegenüber seiner Frau. Er reichte die Scheidung ein und bestand darauf, dass ihr Anteil an der ehelichen Wohnung ohne Entschädigung auf ihn übertragen werde.
Obwohl sie wusste, dass ihr rechtlich die Hälfte des Eigentums zustand, war die Frau verzweifelt bereit, dieser Forderung nachzugeben – aus Schuldgefühlen und aus Angst vor ihrem Ehemann. Zudem wollte sie das Scheidungsverfahren möglichst schnell abschließen.
Dies ist ein klassisches Beispiel für den Konflikt zwischen der Autonomie der Streitparteien und materieller Fairness. Die Mediatoren entschieden sich in diesem Fall dafür, separate Gespräche mit beiden Parteien zu führen.
Mit der Ehefrau wurde besprochen, ob sie sich rechtlichen Rat zu den Auswirkungen ihrer Beziehung mit ihrem Vorgesetzten auf die Eigentumsaufteilung eingeholt hatte. Die Mediatoren baten sie, sorgfältig darüber nachzudenken, ob die Forderung ihres Mannes für sie langfristig tragbar wäre – insbesondere, wenn diese Immobilie den Großteil oder sogar ihr gesamtes Vermögen ausmachte.
Mit dem Ehemann wurde über seine Vorstellungen von Ehe und Treue gesprochen und darüber, ob ein Verstoß gegen diese Treue automatisch bedeutete, dass alles Gute, was aus der Ehe entstanden war, keine Bedeutung mehr hatte.
Es wurde auch eine Realitätsprüfung durchgeführt, um zu reflektieren, ob das Gesetz seine Ansichten tatsächlich teilte. Vielleicht hing eine faire Verteilung des ehelichen Vermögens nicht ausschließlich von einem einzelnen Faktor ab.
Das Gespräch mit dem Ehemann war natürlich deutlich schwieriger, aber diese Diskussionen gaben beiden Parteien Denkanstöße. Letztendlich führte dies zu einer fundierteren und wohlüberlegten Einigung.
Fazit
Als Mediatoren müssen wir fest davon überzeugt sein, dass Ethik eine entscheidende Rolle spielt, um Fairness im Mediationsprozess zu gewährleisten. Dies führt letztlich zu besseren Ergebnissen für die Parteien.
Da Mediation ein vertraulicher Prozess ist und somit nicht leicht einer öffentlichen Kontrolle unterliegt, ist es umso wichtiger, dass wir diese Überzeugung verinnerlichen und ihr eine zentrale Rolle in unserer Selbstregulierung einräumen.
Der Prozess mag zwar vertraulich sein, doch mindestens zwei weitere Parteien werden Zeugen unserer Vorgehensweise und unserer Arbeit als Mediatoren sein – die Streitparteien und manchmal auch unser Co-Mediator.
Mit der zunehmenden Zahl von Fällen, in denen Parteien unterschiedlicher Herkunft involviert sind und Co-Mediatoren aus verschiedenen Rechtsräumen zusammenarbeiten, sollten Gespräche zwischen Co-Mediatoren über mögliche unterschiedliche Ansätze ein fester Bestandteil der Vorbereitung auf die Mediation sein. Nur durch diese Gespräche können wir lernen, unterschiedliche ethische Standards wertzuschätzen und herausfinden, wie wir mit unseren verschiedenen Ansätzen effektiver Klienten mit vielfältigen kulturellen und beruflichen Hintergründen unterstützen können.
Autoren
Susan Tay
Susan Tay ist eine zertifizierte Mediatorin, akkreditiert vom Singapore International Mediation Institute. Ihr Hauptfokus liegt auf Familienthemen, und sie wurde speziell dafür ausgebildet, komplexe Streitigkeiten im Zusammenhang mit elterlicher Kindesentführung zu behandeln. Darüber hinaus ist sie als Familienanwältin tätig, wobei ihr Schwerpunkt auf der Mediation liegt – entweder als Mediationsanwältin für ihre Mandanten oder als Mediatorin.
Christian von Baumbach
Christian von Baumbach ist ein zertifizierter Mediator, akkreditiert vom Singapore International Mediation Institute und dem Deutschen Bundesverband Mediation, sowie assoziierter Mediator bei PracticeForte in Singapur. Seine Mediationspraxis umfasst Familienmediation, Arbeitsplatz- und Teammediation, mit einem besonderen Fokus auf internationale und interkulturelle Fälle.
Darüber hinaus ist er Dozent für Mediation und interkulturelle Kommunikation an deutschen Universitäten sowie Mediationsausbilder mit internationaler Erfahrung in Singapur und Japan.